Пресса

Ein Spitzel namens Hügo

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Von Marko Martin

Nicht immer artikuliert sich Traumatisierung so leise. Häufig lärmt sie auch, springt von der Selbstbetrachtung in die Außenweltschelte und schlägt aggressive Volten und Kapriolen, die man nicht mögen muss, aber dennoch ästhetisch goutieren kann. Einer dieser Fälle ist Louis-Ferdinand Céline und sein Roman «Reise ans Ende der Nacht». In der aktuellen Nummer des «Schreibhefts» wird daran erinnert, dass es keine Geringere als Louis Aragons Muse Elsa Triolet war, die dieses Buch 1934 ins Russische übersetzte.

Zwei Jahre später fuhr Céline selbst nach Russland, fand dort jedoch nicht vor, was er sich erhofft hatte, und veröffentlichte danach ein wüstes Pamphlet namens «Mea culpa», das heute wohl zu Recht zu Gunsten André Gides ungleich profunderer «Retour de l’URSS» vergessen ist. Diese Geschichte hat jedoch eine Fortsetzung gefunden. Anfang der neunziger Jahre unternimmt Marusja Klimova, Célines russische Übersetzerin, eine Art Gegenbesuch, quartiert sich in einem Pariser Vorort ein und beginnt einen autobiografischen Roman zu schreiben.

Im «Schreibheft» sind nun einige Seiten aus diesem Text namens «Das Haus in Bois Colombe» abgedruckt — irritierende Passagen, die den Einfluss Célines nicht verleugnen. Denn natürlich gähnt auch hier «überall kalter dunkler Abgrund», denkt die russische Protagonistin permanent an Selbstmord, trifft man auf todessüchtige Südamerikaner und Franzosen, die sich angeblich nie waschen, entdeckt Obdachlose auf der Place d’Etoile und alles in allem ein unwirtliches Paris, wo heute eine Gay-Pride-Parade stattfindet, morgen aber schon der Front National aufmarschiert, um Araber in der Seine zu ersäufen.

Dies alles ist monomanisch und völlig ironieabstinent, literarisch aber nicht ohne Reiz. Vor allem wird — und nicht zuletzt dies spricht für den Text — hier keineswegs einer westlichen Metropole der zivilisationskritische Prozess gemacht; auch aus dem Osten kommt inzwischen nur noch Dunkelheit. Als die Ich-Erzählerin mit dem Zug zurück nach Russland fährt, trifft sie in ihrem Abteil auf einen selbstverständlich «pickligen jungen Mann»: «Er erzählte ihr, in Warschau hätten sie nachts am ausgestreckten Finger eines riesigen Fünf-Meter-Lenins einen kommunistischen Funktionär aufgehängt. Morgens seien dann viele Schaulustige gekommen. Sie hätten den Gehängten erst am Nachmittag abgenommen.» Wenn man so will, auch eine Art One-World-Vision, diesmal nur mittels einer verzerrt-nihilistischen Céline-Brille geschaut.

10.06.2000,  DIE WELT

https://www.welt.de/print-welt/article518079/Ein-Spitzel-namens-Huego.html

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