Пресса

Die absurde Gesellschaft im Roman von Marusja Klimova

100% размер текста
+

Larissa Driller

«Домик в Буа-Kоломб»

«Он почувствовал, что в доме
не все благополучно»

Константин Вагинов
«Козлиная песнь»

Der Roman «Домик в Буа-Коломб» wurde von der russischen Schriftstellerin Marusja Klimova geschrieben und im Jahre 1998 in Sankt-Petersburg verцffentlicht. «Домик в Буа-Коломб» ist vor allem ein gesellschaftliches Panorama. Das Interesse der vorliegenden Arbeit besteht darin, herauszustellen, welcher Natur die im Roman dargestellte Gesellschaft ist, auf welchen Prinzipien sich die Abhдngigkeiten innerhalb dieser Gesellschaft aufbauen, und was die geistige Haltung ihrer Mitglieder kennzeichnet. Die Autorin, deren Figur im Roman eine wichtige Rolle zukommt, gehцrt ebenso zu dieser Gesellschaft. Was die Stimme des (der) modernen Autors (Autorin) ausmachen kann, und in welcher Weise die Rolle des Autors (der Autorin) von der Gesellschaft bedingt wird, soll die Betrachtung der Position der Autorin vor allem in ihrem gesellschaftlichen Kontext zeigen.

Wenn man die ьbertriebene Subjektivitдt der Rezeption des erst unlдngst erschienenen Romans in Betracht zieht, erscheint es sinnvoll mit einer werkimmanenten Analyse anzufangen, um den Text in einer mцglichst objektiven Interpretation aufzunehmen.

I. Das Haus von Pierre

Zum Hauptplatz des Geschehens wird im Roman eine Grossstadt, Paris, was an sich schon den gesellschaftlichen Kontext in den Vordergrund rьckt. Norbert Elias in seinem Buch «Die hцfische Gesellschaft» bezeichnet die Grossstadt als ein Gebilde, das massgebend und reprдsentativ fьr die moderne Gesellschaft ist: «Es gibt innerhalb jedes sozialen Feldes reprдsentative und weniger reprдsentative, zentrale und weniger zentrale Organe. Die Stadt z.B., vor allem die Grossstadt, ist eines der reprдsentativsten Organe unserer eigenen Gesellschaft.»1

Im Zentrum der Darstellung steht das Haus von Pierre, einem Nachkommen eines heruntergekommenen aristokratischen Geschlechts. Sein Haus steht fьr alle offen, die nach einer gьnstigen Herberge und Gesellschaft suchen. Dort treffen sich Kьnstler, Wanderer, Arbeitslose und andere Grossstдdter. Die Wohnweise der Bewohner dieses Hauses ist charakteristisch fьr die Art der Gesellschaft, die sie miteinander bilden, und reflektiert ihre Weltanschauung und Lebensweise. Norbert Elias hebt die Wichtigkeit der Ausgestaltung des Raumes fьr die Analyse der Art des «Beisammenseins» der Menschen hervor: «Denn jeder Art eines «Beisammen» von Menschen entspricht eine bestimmte Ausgestaltung des Raumes, wo die zugehцrigen Menschen, wenn nicht insgesamt, dann wenigstens in Teileinheiten tatsдchlich beisammen sind oder sein kцnnen. Und so ist also der Niederschlag einer sozialen Einheit im Raume, der Typus ihrer Raumgestaltung eine handgreifliche, eine — im wцrtlichen Sinne — sichtbare Reprдsentation ihrer Eigenart».2

Auf den ersten Seiten des Romans wird das Haus von Pierre aus der Perspektive zweier Helden dargestellt, zunдchst aus der Sicht von Kostja und danach von Marusja. Diese zwei Darstellungen unterscheiden sich wesentlich voneinander.

Die Beschreibung des Hauses aus der Sicht von Kostja wird in der Vergangenheitsform wiedergegeben, wobei sie mehr von Kostjas subjektiven Eindrьcken zeugt, als dass sie eine genauere Vorstellung von der Architektonik des Hauses geben wьrde. Mehr noch, seine Sicht des Hauses ist ein chaotisches Phantasiegebilde. Er projiziert eher seine eigenen Visionen, als er wahrnimmt: «Костя еще раз тщательно осмотрел дом Пьера, спустился в подвал, потом поднялся на третий этаж, ему стало казаться, что это заколдованный замок […] Костя опять спустился в подвал. Он уже не сомневался, что он там обнаружит подземный ход, ведущий в сточные трубы, проходящие под всем Парижем, они называются les egouts, там живут все клошары, все отбросы общества, а он, как герой Жана Марэ в фильме «Парижские тайны», спрячется там и, пройдя через все испытания, спасет прекрасную даму.»3 Abenteuerlustig, kьhn, ein Held von ritterlicher Hцflichkeit, will Kostja ьberall die Gelegenheit wahrnehmen, seine Mission eines Helden und Retters (er will Russland und die schцne Dame retten) zu erfьllen. Marusja hebt einige Zeit spдter hervor, dass die franzцsische Literatur und der Aufenthalt in Paris auf den Philosophen Kostja einen tiefen Eindruck gemacht haben. Kostja ist der letzte Romantiker. Diese Haltung lдsst sich an allen seinen Irrfahrten durch die Stadt und wдhrend seines «gelungenen» Ansturms auf das Centre Pompidou nachvollziehen. Er sucht alles zu verklдren, und so sieht er auch im Besitzer des Hauses Pierre einen Aristokraten und in dessen Haus ein verzaubertes Schloss.

Marusja, die im Roman sowohl die Rolle der Autorin als auch die der Erzдhlerin ьbernimmt, strebt in ihrer Beschreibung des Hauses eine objektive Wiedergabe der Realitдt an, was auch die Wahl der Gegenwartsform bedingt. In ihrer Beschreibung zieht sie den Metaphern Vergleiche vor. Dem romantisierenden Blick von Kostja wird somit der kritische von Marusja entgegengesetzt. Das Haus von Pierre ist ein dunkles Haus, seine Fenster sind klein. Es wird kaum beheizt, denn Pierre ist nicht nur verarmt, er ist ein Geizhals, er versteckt vor seinen Gдsten den Telefonapparat und die Wurst vor seiner Stieftochter. Der Bodenbelag der Wohnrдume erinnert an die steinernen Fliesen in der цffentlichen Toillete im Moskovskij Bahnhof. Die Aufzдhlung der Gegenstдnde, die sich im Salon befinden, soll fьr sich sprechen: zwei Sessel unbestimmten Stils, undefinierbarer Farbe und unbekannter Herkunft, die auf der Strasse gefunden worden sind. Auf einem runden Tisch steht der Torso einer Schaufensterpuppe mit einem lieblichen Frauengesicht: eine Stumpfnase, helles Haar und blaue Дuglein — das Bild, das vor allem den Eindruck von Zutraulichkeit und Demut vermittelt, von Eigenschaften, die der Besitzer des Hauses als ideale Eigenschaften der Frau auffasst. Das Haupt des stummen Geschцpfs ist mit einem orangenfarbenen Bauarbeiterhelm gekrцnt. Der Besitzer des Hauses sitzt an einem selbstgebastelten Tisch, isst und trinkt. Sein Blick ist der eines Wahnsinnigen. Ein wichtiges Detail in der Beschreibung des Дusseren von Pierre ist einige Zeit spдter erwдhnt, das in diesem Zusammenhang symbolisch ist: Pierre verzichtet auf den Rat des Spiegels, er gibt sich mit seiner Erscheinung restlos zufrieden, was vom absoluten Fehlen des kritischen Blicks sowohl fьr sich selbst als auch fьr sein Haus zeugt.

Was einst ein aristokratisches Haus war, ist eine Ruine geworden. Die Wohnrдume des Hauses von Pierre geben das Geprдge der Strasse eher wieder, als dass sie eine Vorstellung von der Gemьtlichkeit oder von Haьslichkeit im gewohnten Sinne vermitteln. Weder Stil noch Ansehen, sondern ein totales Verkommen zeichnen dieses Haus aus, es ist verwahrlost.

Das Haus von Pierre stellt keine Ausnahme vom stдdtischen Bild dar. Kostjas Sicht des Hauses und die Art, wie er das Haus seinen Abenteuern entgegen verlдsst, verdeutlichen, dass das Haus von Pierre durch unterirdische Gдnge, Abflusskanдle und Hinterhцfe mit der Aussenwelt kommuniziert und somit mit ihr zusammen ein Ganzes darstellt: «Костя открыл узкое подвальное окно, протиснулся в него и, оказавшись во дворе, не без труда вскарабкался на крышу гаража, потом спрыгнул в соседний двор, к немалому удивлению пившего там в это время за столиком кофе семейства.»4

Es ist darьber hinaus vor allem die Gesellschaft selbst, die ein Haus bildet, und man kann in der Stadt sowohl dem Haus von Pierre дhnliche Bauten finden, als auch dieselbe Gesellschaft, die sein Haus beherbergt, an anderen Orten antreffen, z.B. im Centre Pompidou oder im Irrenhaus, wohin viele der Romanhelden einer nach dem anderen eingeliefert werden.

Ein dem Haus von Pierre дhnliches Gebдude ist ein Atelier der russischen Kьnstler, wo Marusja, auf der Suche nach einem Obdach, vom Gefьhl der Angst und Unsicherheit begleitet, eine notdьrftige Unterkunft fьr eine Nacht findet. Im Atelier, das in einem ehemaligen Fabrikgebдude untergebracht und jetzt unter anderem als eine modische Bildergalerie bekannt ist, befinden sich abstrakte Bilder in maniakalisch-depressiven Farben, das Werk eines in diesem Atelier lebenden Kьnstlers, die eine Illustration der Sisyphusarbeit darbieten: «Все его работы сплошь состояли из брызг и подтеков краски, при этом он явно предпочитал черные, серые и коричневые тона. […] Я обычно работаю широким мазком, краски не жалею, и она протекает сквозь холст на пол. Видите? Только эти работы, к сожалению, нельзя сохранить надолго, они недолговечны.»5 Dieses Atelier, das vielen Kьnstlern gleichzeitig als Herberge dient, kann die trьbe Unruhe und das Bewusstsein der Nichtigkeit nicht auflцsen.

Auf ihrer Suche nach einem bewohnbaren Haus werden viele Romanhelden enttдuscht, so z.B. Trofimova und ihr Mann Borja, die nicht gleich merken, dass eine kleine Baute, die sie sich gerne als Haus gewьnscht hдtten, eine цffentliche Toilette ist, oder Galja, die Frau von Pierre, die sein Haus als eine Hцlle erleben muss.

Die Ruine, zu der das einst aristokratische Haus von Pierre geworden ist, eignet sich nicht fьrs Leben. Wenn das Haus fьr die Aristokratie den hцchsten Reprдsentationswert hatte und Anzeiger des Prestiges war, kann wohl die Ruine kaum dieselbe Funktion ьbernehmen.6 Das Prestige des Hauses von Pierre kann nicht weiter sinken.

II. Die Bewohner des Hauses von Pierre

Eine der zentralen Figuren im Roman «Домик в Буа-Коломб» ist die von Marusja, einer der Gдste im Pierres Haus, die gleichzeitig die Autorin des Romans ist. Die Prдsenz der Autorin wird vor allem in den lyrischen Passagen explizit, in welchen sie durch die Einsicht in ihre eigene Psyche das schцpferische Moment einzufangen versucht, wobei ihr ihre eigene Natur jedoch verborgen bleibt. Viel klarer gelingt es Marusja ihre Autorinposition durch ihre Position in der Gesellschaft zu bestimmen. Dabei werden die Beziehungen, die sie und die anderen Mitglieder der Gesellschaft miteinander verbinden, aus der Perspektive verschiedener Helden dargestellt, was objektive Einsichten in die Art der Beziehungen und die Rollenverteilung in der Gesellschaft gewдhrt und auf das Wertsystem schliessen lдsst, das in der dargestellten Gesellschaft gьltig ist.

Marusja ist eine von vielen Gдsten von Pierre, die in seinem Haus eine Unterkunft finden. Bei ihrer Ankunft wird sie von ihrem Freund Kostja begleitet. Ihre Beziehung zueinander wird nicht direkt thematisiert, eher wird in einigen Bildern ihr Charakter gezeichnet, der auf eine Subjekt-Subjekt Beziehung im Sinne von Bachtin schliessen lдsst. Sowohl Kostja als auch Marusja haben genug Spielraum fьr das Eigenleben. So gehen auch ihre Wege gleich nach der Ankunft bei Pierre auseinander, sie begegnen sich aber spдter immer wieder. Ihre Beziehung dauert ьber Jahre hinweg, und es ist nicht zuletzt die gegenseitige Hilfsbereitschaft, die sie zusammenhдlt: «Костя вспомнил, как на целые дни уходил в библиотеку и все читал, читал, читал, даже тогда, когда им с Марусей совсем нечего было есть. И Маруся тоже не напрасно жертвовала собой ради него.»7

Die Beziehung zwischen Marusja und Kostja grьndet vor allem auf Sympathie und ragt in diesem Sinne ьber eine nur auf Pflichten oder andersgearteten gesellschaftlichen Abhдngigkeiten grьndende Beziehung hinaus. Pierres Verhalten gegenьber Marusja ist in erster Linie von der Tatsache bestimmt, dass Marusja eine Frau ist. In diesem Sinne unterscheidet sich ihre Position im Haus von Pierre prinzipiell nicht von der anderer Frauen, die bei ihm eine Herberge finden. Fьr Pierre ist grundsдtzlich jede Frau ein potentielles Liebesobjekt, alle Frauen fьhlen sich in seinem Haus bedroht. Auf die Frage, was sein Frauentyp sei, kann er keine Antwort geben, sein Verlangen ist nicht ein Verlangen nach einer bestimmten Frau, sein Denken ist ein Beispiel eines Differenzierungsunvermцgens. Aus seinen Tagebucheintragungen wird aber sichtbar, dass Marusjas Verhalten ihn etwas befremdet: «Зачем она ходит в джинсах? Лучше бы она ходила в юбке. Зачем она приехала с Костей? Это меня раздражает.»8 Seine Annдherungsversuche an Marusja, fьr die er die Augenblicke nьtzt, wenn sie sich von der dьsteren Atmosphдre der Angst, die im Haus von Pierre herrscht, bedrьckt fьhlt oder krank ist, gehen nicht ьber einen vдterlichen Kuss auf die Stirn hinaus.

Marusja trifft schon auf den ersten Seiten des Romans eine klare Aussage ьber Pierre: er ist ein Wahnsinniger. Pierre bleibt dennoch fьr sie auch weiterhin ein Beobachtungsobjekt. Marusja gewдhrt dem Leser auf verschiedene Weisen die Einsicht in die Art seines Wahnsinns, aber vor allem im Pierres eigenem Tagebuch, das die Funktion des Spiegels seiner Psyche ьbernimmt, bekommt sein Wahnsinn deutlichere Konturen.

Als Marusja den Leser ьber die im Pierres Elternhaus einst bestehende Verhдltnisse informiert und Pierres Kindheitserinnerungen aus seiner Sicht wiederzugeben sucht, kann ihre Art das Beobachtete mitzuteilen den Eindruck verleihen, dass es sich um eine Beobachterin handelt, die um einen sinnverstehenden Zugang zum Beobachteten nicht bemьht ist. Die zunдchst tдuschende Unbefangenheit und scheinbar unreflektierte Art der Erzдhlerin, die Pierres Logik in der Form der erlebten Rede wiedergibt, decken aber allzu deutlich ziemlich absurde kausale Zusammenhдnge seines Denkens auf, und verweisen somit auf die kontrollierende Instanz der Autorin: «Пьера же постоянно заставляли говорить: <<Спасибо, пожалуйста>>, поэтому у него на всю жизнь осталось отвращение к этим словам. Вот почему, когда к нему из России приехала жена с дочкой, он запрещал девочке говорить эти слова, он пытался заставить ее саму готовить себе еду и мыть посуду […]»9 Die scheinbare Unbefangenheit erweist sich somit als ein kritischer Blick, der daran interessiert ist, die Geisteshaltung der dargestellten Figuren festzuhalten und die aus dieser Geisteshaltung entstehenden Wertvorstellungen aufzudecken.

Die Eintragungen im Pierres Tagebuch zeugen vor allem von der vцlligen Immoralitдt seiner Ansichten. Aus krankhaften Phantasien, in denen sich sein Wunsch Vater zu sein дussert, wird gleichzeitig seine Idee von der Vaterschaft und von der Ethik ersichtlich. Im Zentrum seines ethischen Systems steht der Phallus, und seine Gesetze bestimmen die inhaltliche Festlegung der Moral. Der Phallus wird in der Vorstellung von Pierre zum Instrument der Beherrschung der Untertanen, die in Furcht der Strafe sich dem Willen des Vaters vцllig unterwerfen sollen. Die Untertanen des Vaters sind vor allem die Frauen. Die Furcht vor dem Phallus ist dermassen gross, dass dieser selbst Pierre unheimlich vorkommt. Er hat Furcht vor Phallokraten: «там часто можно было встретить какого-нибудь здоровенного негра, который стоял, отвернувшись к стене и мочился. Пьер обходил его с опаской, он знал, что все негры — жуткие фаллократы, и к тому же бандиты.»10

Galja, die Frau von Pierre, und ihre Tochter werden zu tatsдchlichen Opfern seiner krankhaften Vorstellungen. Mit dem Messer in der Hand bedroht Pierre Galja, wenn sie ihm die Liebe verweigert, und ihre Tochter hдlt er in stдndiger Angst. Er manipuliert auch Galjas Mitleidgefьhl: «Пьер пытается взять ее под руку, она с нескрываемым раздражением дергает плечом, Пьер обиженно отходит в сторону, она смотрит на Пьера, ей становится его жалко, она подходит к нему и целует его в лобик.»11

Die Beziehungen, die auf dem Wertsystem, das er zu vermitteln versucht, basieren, sind kaum noch aufrechtzuerhalten. Alle Frauen verlassen sein Haus, aber Pierre ist nicht gewillt auch das Geringste in seinem Haus zu дndern. Pierres «naturgebundene» Verhalten ist ein asoziales, und an seine Autoritдt zu glauben wдre absurd.

Auch Marusja verlдsst das Haus von Pierre und zeigt sich somit unabhдngig. Ihre Unabhдngigkeit manifestiert sich vor allem als Fдhigkeit, auf Distanz zu vermittelten Werten zu gehen. Diese Fдhigkeit findet ihre Positivierung im Bewusstsein des Rechts darauf, eine Entscheidung aus freiem Willen entsprechend den selbstgeschaffenen Werten zu treffen.

Marusjas Haltung wдhrend der Suche nach Arbeit ist exemplarisch fьr die Realisierung dieses Rechts. Katja, eine Bekannte von Marusja, rдt ihr die Stelle einer Kellnerin in einem Restaurant anzunehmen und begleitet Marusja zum Bewerbungsgesprдch mit dem Besitzer des Restaurants. Dem Besitzer des Restaurants geht es darum, fьr so wenig Geld wie mцglich soviel an Serviceleistungen wie mцglich zu gewinnen. In seiner Vorstellung ist die Mцglichkeit dieser Serviceleistungen im Begriff der Frau bzw. der Ehefrau mitgerechnet. In seinen Erwartungen wird er aber getдuscht, als er Marusja vor sich sieht, eine Frau, die auf sich die Rolle der Dienerin zu nehmen weder geneigt ist noch imstande wдre. Er versteht es sogleich, und Marusja bekommt eine Absage, worьber sie ganz zufrieden ist. Es war nur eine absurde Idee von ihr, Katjas Ratschlдgen zu folgen.

Als Marusja und Katja das Restaurant verlassen, macht Katja eine zunдchst erstaunlich und zugleich absurd klingende Bemerkung: «И к тому же ее (Marusju) очень удивила фраза Кати, которую она обронила, когда они вышли от араба: — Я бы очень хотела, чтобы вы с ним полюбили друг друга.»12 Diese Bemerkung informiert aber Marusja ьber Katjas eigentliche Motive. Katjas Art auf Marusjas Entscheidung Einfluss zu nehmen, ist die einer Verkupplerin: «Позже Марусе стало ясно, что Катя была не прочь ближе сойтись с Костей, она не понимала, что главная проблема для нее заключалась не в Марусе, а в самом Косте, который, общаясь с Катей, был настроен на столь возвышенный лад, что по прежнему не замечал ее женских уловок и хитростей, а если иногда замечал, то ее кокетство выводило его из себя.»13 Die Positionen sind in dieser kurzen Szene klar verteilt. Katja als Verkupplerin sieht sich schliesslich in einer fьr sie hцchst peinlichen Situation, ausserdem hat sie nicht die richtige Einsicht in die Beziehung zwischen Marusja und Kostja, die ihrer Vorstellung von mцglichen Beziehungen ьberlegen ist. Marusja interpretiert das Gesprдch auf die Weise, dass keine Illusionen ьber das Handlungsmuster des Restaurantsbesitzers und ьber die Motive des Handels von Katja bleiben. Marusjas Reaktion auf die Absage zeugt von einer kritischen Distanz gegenьber der zunдchst als eine Notwendigkeit erscheinenden Entscheidung eine bestimmte gesellschaftliche Position einzunehmen, hier die der Kellnerin, spдter einer Hostess, mit der aber ihre Natur in Konflikt geraten wьrde.

III. Das Spiel mit Beziehungen

Die von Marusja dargestellte Gesellschaft ist vor allem ein dynamisches Beziehungsfeld, dessen Dynamik in vielem vom Spiel bestimmt wird.

In der Szene der Kцniglichen Jagd erhдlt man ein Bild vom gesellschaftlichen Feld als einem Spielfeld. Die veranstaltete Kцnigliche Jagd ist selbst ein Beispiel einer eigenartigen Transformation des herkцmmlichen Rituals der Jagd, das in der Regierungszeit Ludwigs XIV festgelegt wurde. Die moderne Veranstaltung wird vor allem zum Schauspiel. Im Wald Fontainebleau versammelt sich die Jagdgesellschaft, die aus eigentlichen Jдgern und Schaulustigen besteht. Die meisten der Jдger sind dem Anlass entsprechend gekleidet und zu Pferd, die ьbrigen verfolgen die Jagd zu Fuss. Das Jagdtier, der Hirsch, wird noch vor dem Beginn der Zeremonie aufgespьrt, und es wird versucht, seine weitere Fдhrte voraus zu bestimmen. Aber auch mit Hilfe der Jagdhunde gelingt es nicht immer es wiederzufinden. Fьr die Verpflegung der Jagdgesellschaft ist auch gesorgt worden. Eine grosse Karosse, die eine Art mobilen Restaurants darstellt, ist gegen Ende der Veranstaltung voll besetzt. Im Roman wird bei allen gesellschaftlichen Zusammenkьnften in der Regel ьbermдssig gegessen.

In der veranstalteten Kцniglichen Jagd erinnert nur weniges an das Jagdritual des 16. Jahrhunderts, die Tradition der feierlichen Jagdzeremonie der Zeiten des Ludwig XIV wird durch wenige symbolische Handlungen gewьrdigt: «Перед началом охоты все выстраиваются в линейку, и главный охотник оповещает собравшихся о возможном местонахождении оленя. Раньше, в 16 веке, он докладывал об этом королю Франции, а затем торжественно надевал на него ботфорты. Теперь же это только дань традиции, а ботфорты надевать не на кого. Потом выпускаются собаки, и все отправляются на поиски оленя.»14 Der Name selbst steht fьr die Absurditдt der Veranstaltung, denn es gibt in dieser Kцniglichen Jagd weder einen Kцnig, noch findet die Jagd im eigentlichen, gewohnten Sinne des Wortes statt.

Es wдre aber nicht ganz richtig die Sinnlosigkeit der veranstalteten Jagd zu behaupten, oder die Veranstaltung nur mit der Nostalgie der Teilnehmer nach alten, schon lдngst dahin geschwundenen Zeiten erklдren zu wollen. Die Jagdzeremonie hat offenbar eine Transformation erfahren, derzufolge sie zu einer durchorganisierten Massenveranstaltung geworden ist, in der jeder eine ihm durch das Ritual vorgeschriebene Rolle zu spielen hat, ohne die Spielregeln дndern zu kцnnen, und deren Spannungselement darin besteht, dass jeder eine schauspielerische Leistung zu vollbringen hat. Die Sinnaspekte der Kцniglichen Jagd verlagern sich somit auf andere Momente der Veranstaltung, und wenn man sie vor allem als ein gesellschaftliches Ereignis und ein Treffpunkt fьr eine bestimmte Gesellschaft betrachtet, erцffnet sich ein unterschwelliges Spielfeld, in welchem sich sowohl eine diesem Spiel eigene Dynamik als auch eine nicht geringe Spannung enthalten sind. So ist auch das Erscheinen von einem der Romanhelden Dima bei dieser Veranstaltung nicht zufдllig: «Дима уже давно ошивался около подобных великосветских тусовок, за это время у него даже успело сложиться нечто вроде тщательно разработанного плана — что говорить, как себя вести — и он только ждал удобного случая, дабы его реализовать.»15 Dima hat auf der Suche nach Arbeit die Vorstellung gefasst, dass er sie leichter finden wьrde, wenn er sich fьr einen Homosexuellen ausgeben und nach einem sympathisierenden Arbeitgeber im aristokratischen Milieu suchen wьrde. Dabei hat er auch eine ziemlich genaue Vorstellung von mцglichem Aussehen und der Verhaltensweise des gesuchten Aristokraten. Wдhrend der Jagdveranstaltung erkennt er sogleich in einem der Jдger den von ihm gesuchten Typus und entschliesst sich seinen Plan in die Tat umzusetzen. In einem kurzen Gesprдch mit dem Unbekannten bekennt er sich zur Homosexualitдt, erzдhlt ьber seine missliche Lage eines Arbeitslosen und erklдrt sich zu einem Waisenkind. Der Erfolg seiner Erzдhltaktik einerseits und andererseits die schnelle Reaktion des Unbekannten, der Dima ohne nur einen Augenblick zu zцgern eine Herberge und Arbeit anbietet, zeugen davon, dass auch dem letzteren die in dieser Gesellschaft geltenden Spielregeln bekannt sind, an die er sie auch hдlt. So sind die Jдger gleichzeitig selbst Gejagte, wobei ihre gesellschaftliche Position ausschlaggebend fьr die Art der gesuchten Beziehungen ist.

Die von Dima vorgetдuschte Homosexualitдt setzt ihn den Situationen aus, die sich durchaus nicht als ungefдhrlich erweisen. So ist Dima gezwungen, die von ihm angenommene Stelle bei dem reichen Aristokraten zu verlassen, nachdem er in dessen Badezimmer einen Gegenstand findet, der ihn erschreckt: einen riesigen Gummiphallus. Sein grosser Schrecken lдsst vermuten, dass Dima in diesem Phallus eine seine Vorstellungskraft ьbersteigende Perversion sieht; in diesem Augenblick erhдlt er ein deutliches Bild dessen, wie gross die Diskrepanz zwischen seinen Vorstellungen und der Realitдt, und wie gefдhrlich das von ihm angefangene Spiel ist, denn er lдuft das Risiko ein, sich der Gewalt der Mitspielenden schutzlos auszusetzen.

Die Realitдt erweist sich schlimmer, auf jeden Fall jedesmal anders, als in der Vorstellung der Romanhelden.

Eines der Opfer ihrer eigenen Phantasien ist Galja, die Frau von Pierre. Als Galja Pierre zum ersten Mal sieht, wird er ihr als Professor der Slawistik vorgestellt. Obwohl Pierre nur sehr schlecht Russisch spricht, zieht Galja seine gesellschaftliche Position nicht in Zweifel und verliebt sich sogleich. Statt Pierres Erscheinung und sein Verhalten nьchtern zu betrachten, misst sie sie an klischeehaften Vorstellungen vom professoralen Aussehen und folgt Pierre und ihren Phantasien nach Frankreich. Fьr sich und fьr ihre Tochter will sie die Zukunft sichern und Pierres Hдuser, eins in Bois-Colombe und eins in der Normandie, erben. Als sie nach Frankreich kommt, sieht sie ihre Hoffnungen begraben. Pierres Professur stellt sich als ein schlechter Witz heraus, Pierres Hдsslichkeit merkt Galja sehr wohl, und das Leben im Pierres Haus erweist sich als ein Alptraum. Aus einer relativ unabhдngigen Position, denn sie lebte allein und hat ihre Tochter ohne Vater erzogen, gerдt sie in die Hдnde eines Wahnsinnigen. Galja bleibt dennoch einige Zeit im Haus von Pierre und unterzieht sich Pierres Gewalt, teils aus Angst, teils weil sie ihren absurden Glauben an seine autoritдre Position nicht aufgeben will: «Через несколько дней у Гали появились первые сомнения по поводу того, что Пьер профессор. […] Вообще, Галя старалась не думать о неприятном и отгоняла от себя мрачные мысли. Главное — что она приехала в Париж!»16 Neben der immer grцsser werdenden Gewissheit, dass Pierres Verhalten dem eines Wahnsinnigen gleicht, gibt Galja Pierre nach, indem sie auf seine vermeintlich kindliche Unbeholfenheit als Mutter reagiert. Pierres und Galjas «Mutter — Kind» Spiel endet schliesslich in einem blutigen Drama, als Galja sich in ihrer Weiblichkeit bedroht sieht: «Он воображал себя маленьким ребеночком, он сосал грудь своей мамочки, хотя его мамочка иногда заставляла его страдать […] Он стиснул зубы, Галя застонала, как будто в экстазе, он стиснул сильнее и почувствовал, как теплая жидкость струится ему в рот — пусть она в ужасе визжит, пытается вырваться, это она просто пытается забрать грудку у своего мальчика! Вставная челюсть выскочила изо рта и так и осталась висеть, зацепившись желтыми клыками за сосок, наполовину откушенный и кровоточащий…Галя убежала…»17

Galja und ihre Tochter fliehen schliesslich aus dem gefдhrlichen Haus, und Gala will sich nicht mehr an den schrecklichen Aufenthalt bei Pierre erinnern: «У себя дома она долго не могла опомниться, и соседи отпаивали ее валерьянкой, она не могла спать без снотворного, и даже через два года, не любила вспоминать об этом периоде своей жизни.»18

Indem die Romanhelden ihre subjektivsten Vorstellungen vom nie Erlebten als real ansehen wollen oder die allgemeingьltigen Vorstellungen unreflektiert ьbernehmen, geraten sie in Konflikt mit der Realitдt und sehen sich grotesken in ihrer Grausamkeit Situationen ausgeliefert.19 Das Spiel mit Metaphern und mit der Sexualitдt erweist sich als ein gefдhrliches Spiel. Die Beziehungen in dieser Gesellschaft stellen nun zu viel Risiko dar, als sie ohne weiteres akzeptiert und ьberhaupt eingegangen werden kцnnten.

IV. Gesellschaft im Tanz

Das Motiv des Tanzes nimmt im Roman einen bedeutenden Platz ein. Der Charakter der Tдnze der Helden ist verschieden, hinter jedem Tanz stehen stets eigene Beweggrьnde und Absichten. Der Tanz kann die Rolle eines Kommunikationsmediums ьbernehmen, der Ausdruck eines verwirrten Geistes sein, kann aber auch zu einem grossen gesellschaftlichen Ereignis werden. Die Gayparade, die Apotheose des gesellschaftlichen Tanzes, scheint in sich alle diese Eigenschaften zu vereinen und wird darьber hinaus zum Ausdruck dessen, was die Gesellschaft bewegt, und in welche Richtung sie sich entwickelt.

Kostjas Tдnze stellen die schцnsten Szenen im Roman dar. Wдhrend eines Gelages der Anarchisten bei der Feministin Katja, die ihren Gдsten reichlich Wein einschenkt, durchdringt Kostja mit besonderer Heftigkeit das Bewusstsein der Mission, die zu erfьllen er bestimmt ist: «Вот оно, это собрание состоялось специально ради него. Именно он спасет Россию, собравшиеся здесь пойдут на Дон и поднимут казачество.»20 Dabei denkt er an Marusja, die als einzige in sein Geheimnis eingeweiht ist, und die fьr ihn Russland symbolisiert. Auch Marusja soll er vor ihren Feinden retten. Kostja entschliesst sich ihr im Tanz das Wichtigste mitzuteilen. Um seine patriotisch-religiцsen und gleichzeitig euphorisch-lyrischen Empfindungen in ihrer Authentizitдt zu zeigen, will er seine Inspiration wie ein wahrer Kьnstler in einen Tanz umwandeln. Er will vor seinen Beobachtern als ein Ballettдnzer erscheinen, der seinen Tanz mit Charisma und Perfektion eines Nizinskij vorfьhrt. Durch die Erhabenheit und Schцnheit seines Tanzes will er die potentielle Gewalt seiner mutmasslichen Gegner neutralisieren: «Этот безумный танец был тайным оружием Кости, он должен был сокрушать сознание всех врагов Кости, сводить их с ума.»21 Im Tanz ьbergibt er Marusja eine Olive, die Frucht seines philosophischen Suchens und setzt dadurch die bцse Macht des Antichristen ausser Kraft. Seinen Tanz fьhrt Kostja einige Zeit spдter im Centre Pompidou fort, als er von dort aus die Rettung der Welt starten will, wobei er sich das Centre Pompidou als ein revolutionдres Schiff und sich selbst als dessen Kapitдn vorstellt.

Kostjas Tanz soll die Kьhnheit, die Erhabenheit und die Kraft seines philosophischen Denkens symbolisieren, das Russland und die ganze Welt von der ihnen drohenden Gefahr befreien soll. Kostja findet aber in seinen Zuschauern keine seinem Tanz adдquate Reaktion. Der Sinn, den er durch seine Tanzbewegungen den Zuschauern mitzuteilen versucht, wird nicht verstanden. Kostja ist rьhrend und lдcherlich zugleich, denn seine Ideale werden nur von Marusja, sonst von niemandem, verstanden. Er wird von den Wдchtern des Centre Pompidou ins Irrenhaus eingeliefert. Kostjas Versuch der Revolution scheitert, er bleibt ein Einzelgдnger.

Ein anderer Held des Romans, Dima, ist auch vom Tanz besessen. Im Gegensatz zu Kostja, dessen Tanz auf den Sinn und die Wirkung bedacht war, ist der Tanz von Dima eher als Zeichen seiner Orientierungslosigkeit zu verstehen: «Диму переполняла энергия, он вообще не мог долго сидеть на месте, и почти все время приплясывал и пританцовывал, прищелкивая пальцами и что-то напевая.»22 Dima tanzt im Leerlauf, aus Ьberschuss an Energie, er ist von jeder noch so absurden Idee begeistert und gleicht einem Erblindeten, der nicht weiss, wohin sein Weg fьhren soll.

Seine Kulmination findet das Motiv des Tanzes in der Gayparade. Die Tanzbewegungen der Teilnehmer der Gayparade, so wie ihre provozierende Bekleidung und Accessoires in krдftigen Signalfarben sollen gezielt die Sexualitдt der Beobachter wachrьtteln: «Рядом ехала машина, из динамиков грохотала оглушительная музыка, сверху сыпались разноцветные бумажные кружочки, почти обнаженный мулат, прикрытый только красным треугольником спереди, в тяжелых армейских ботинках без устали танцевал на крыше кабины грузовика, толпа хором скандировала: Pйdй, goudou, rejoignez-nous!»23

Der Platz der Bastille, der traditionsgebundene Ort der Revolution, ist das Ziel der sich im Tanz fortbewegenden Demonstration. Der friedliche revolutionдre Marsch erreicht seinen Hцhepunkt im Zeichen des Bьndnisses mit Gott: auf der Sдule, um die sich die Menge im Kreis bewegt, schwingt jemand die Fahne der Homosexuellen, die alle Farben des Regenbogens enthдlt. Der bronzene Genius der Freiheit ist hinter den aufgeblasenen regenbogenfarbenen Prдservativen nicht mehr zu sehen, die vom dionysischen Charakter der Freiheit und vom Triumph der Revolution im Sinne von Marquis de Sade zeugen: es herrschen die Perversionen, die die Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts verhindern.24 Die Gesellschaft bewegt sich ihrer Ausartung entgegen.

Gegen Ende ihres Aufenthalts in Paris schliesst Marusja eine Bekanntschaft mit dem Profitдnzer Sereza, einem bekennenden Homosexuellen, der fьr sich das ihn beschдftigende Problem der Vaterschaft nicht lцsen kann. Er liebt Kinder und sieht es als eine Tragцdie an, dass er keine Kinder haben kann. Die Unmцglichkeit Vater zu werden steht aber gleichzeitig fьr das geistige Unvermцgen von Sereza, denn sowohl die Idee der Vaterschaft, als auch die Idee vom Kind scheint er prinzipiell nicht auffassen zu kцnnen: «И все-таки, лучше уж найти себе мальчика у метро, шестнадцати лет или там двенадцати — какая разница. Можно спать с кем угодно, ну трахаться там, любить человека, но нельзя любить идею.»25 Weder das Alter ist fьr die Idee vom Kind entscheidend, noch ob es sein eigenes Kind wдre oder nicht, denn Serezas Denken ist ein weiteres Beispiel vom absoluten Differenzierungsunvermцgen und fьr das absurde Denken. Als er sich von Marusja verabschiedet und torkelnd die Treppe hinaufsteigt, stellt er das Bild eines betrunkenen taumelnden Dionysos, des Gottes der Metaphysik des Leibes, dar.26

Das Leitmotiv des Tanzes als eines der unmittelbarsten Ausdrucksformen dessen, was die Menschen bewegt, entfaltet sich im Roman nuancen- und bedeutungsreich. Der Erzдhlerin als einer sensiblen Beobachterin gelingt es, sowohl die subjektivsten Beweggrьnde der Tanzenden als auch den Rhythmus der gesellschaftlichen Bewegung im Tanz festzuhalten.

V. Die Autorin in der Gesellschaft

Um eine glaubwьrdige und objektive Wiedergabe der beobachteten Welt zu gewдhren, muss die Autorin Marusja sich als eine Interaktantin der zu beschreibenden Gesellschaft darstellen: «Здесь в Париже Маруся фактически уже попала в разряд клошаров, бомжей и проституток, милостыню она, правда, еще не просила, но уже была близка к этому, ей оставалось лишь перешагнуть через последнюю черту, а впрочем — почему бы и нет и что в этом страшного?»27 Diese Bemerkung weist nicht unbedingt auf ihre wirkliche gesellschaftliche Position hin, sondern auf die Mцglichkeit der Realisierung dieser Position, die in der bestehenden Gesellschaftsordnung ziemlich wahrscheinlich ist. Nur der permanente Widerstand und die Ьberwindung der Angst zur Realisierung der eigenen Werte, was immer ein Wagnis ist, kцnnen den Schutz der Persцnlichkeit in der Gesellschaft, die eher die Herausbildung des autoritдren, widerstandslosen Charakters begьnstigt, bieten. In dieser Gesellschaft macht sich Marusja auf die Suche nach dem verlorenen Willen, der vielleicht die menschlichste Eigenschaft ist. Als gesundes Mitglied der Gesellschaft sucht Marusja nach Anerkennung, indem sie sich in entgegengesetzte Richtung von den vermittelten irrationalen Werten bewegt und so sich als eine Autoritдt behauptet.

Der Entscheidungsspielraum fьr die Bildung der neuen Werte, auf die eine neue Autoritдt aufgebaut werden kann, ist Marusja vorgegeben, es ist das Haus von Pierre. Marusja, die einen kritischen Blick fьr soziale Verhдltnisse hat, lдsst eine scharfe Satire auf das im Pierres Haushalt bestehende Wertsystem entstehen. Pierres Vorstellungen von der Vaterschaft lassen auf die Krise der Figur des Vaters, die Krise einer patriarchalischen Gesellschaft im allgemeinen schliessen, die ihre Potenz in Frage gestellt sieht. Es entsteht die Notwendigkeit einer neuen Autoritдt, sobald das Anliegen der Mitglieder der Gesellschaft das Erhalten ihrer sozialen Einheit ist, und solange es eins der Ziele der Gesellschaftsordnung ist, die Mцglichkeit der Verwirklichung fьr ihre Mitglieder zu gewдhrleisten. Die wachsende Irrationalitдt des bestehenden Wertsystems stellt sich aber als Problem fьr die Verwirklichung des vernьnftigen Wesens dar und erweist sich als destruktiv fьr die Gesellschaft. Marusjas Stimme erhebt sich gegen das irrationale, oft absurde Denken, sie wertet die Figur des Autors (der Autorin) auf, der (die) bewusst eine Autorschaft beansprucht, und lдsst das Genre der Satire wieder aufkommen. Die Figur der Autorin, deren Prдsenz im Roman durch explizite und weniger explizite Hinweise auf ihre kontrollierende Funktion stets hervorgehoben wird, ist von prinzipieller Wichtigkeit. 28 Als eine scharfe Beobachterin und aufmerksame Zuhцrerin verfьgt Marusja ьber die Information, die ihr potentiell eine autoritдre Position in der Gesellschaft ermцglicht, und damit besitzt sie ein wichtiges Element der Machthabung — das Wissen ьber die Anderen. In der kьnstlerischen Verarbeitung wird dieses Wissen zu einem Werk von nicht geringer Kraft. Marusja ist eine Oppositionelle mit Erfolg, denn sie findet einen Verleger sowohl fьr ihre Ьbersetzung eines Romans von L.-F. Cйline als auch fьr ihren eigenen Roman, was natьrlich viel bedeutsamer ist.

Eine gewisse emotionale Distanzierung und das Bewusstsein der eigenen Unabhдngigkeit zeichnet Marusja in ihren Beziehungen zu Pierre und anderen Bewohnern des Hauses aus. Ihre Haltung ist aber nicht bloss die einer zur Macht Strebenden oder einer teilnahmslosen Beobachterin. Indem Marusja zeigt, wie problematisch die gegebene Welt fьr die Helden ihres Romans ist, stellt sie sich an die Stelle der Schwachen, fьr die die existentielle Angst zu einer unertrдglichen Last geworden ist. So auch das Kommentar von Vladimir Sorokin, der vor allem auf das Fehlen des Zynismus im Buch aufmerksam macht: «Книга, способная тронуть в наше циничное время.»29 Marusja ist durchaus gesellig. Ihre Beziehungen mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft erstrecken sich ьber Jahre, sie ist imstande Freundschaften zu pflegen. Indem sie den von der Gesellschaft vermittelten Werten kritisch gegenьbertritt, ist sie sich vor allem der Notwendigkeit bewusst, ein Wertsystem zu generieren, das ihr eine Autonomie innerhalb dieser Gesellschaft einrдumen wьrde und die nun sehr deutlich spьrbare Gefahr der bestehenden Gesellschaftsordnung neutralisieren wьrde. In ihrer Gesellschaftskritik geht es Marusja nicht nur um die Emanzipation von der mдnnlichen Gewalt, es geht vor allem um die Emanzipation vom absurden Denken, sowie von den vermittelten Werten, deren Absurditдt offensichtlich geworden ist. Denn die Gesellschaft, in welcher die Mдnner ihre Mдnnlichkeit in Frage gestellt sehen, die Frauen sich in ihrer Weiblichkeit bedroht, wo die Kinder ohne Eltern bleiben, ist eine absurde Gesellschaft.

Man kann Marusja als eine Schriftstellerin der Dekadenz ansehen, mit einem wesentlichen Unterschied vom traditionellen dekadenten Weltempfinden: man ist fasziniert vom Ьbel anstatt zu reagieren. Fьr Marusja ist die dekadente Bewegung der Gesellschaft insofern faszinierend, als sie den Stoff fьr ihre Schцpfung darstellt. Indem sie aber diese Bewegung als krankhaft definiert, kann man diese Gesellschaft nur mit knapper Not als reizend empfinden.30 Marusja will gesund bleiben, das Ьbel hat fьr sie seinen Reiz verloren.

Wenn Marusja das asoziale Wesen von Pierre, einem Nachfahren eines einst aristokratischen Geschlechts, in seiner ganzen Hдsslichkeit grotesk darstellt, und andererseits das Streben der Menschen nach einem Zusammenleben in einer Gemeinschaft hervorhebt, so will sie vor allem die Selbstverstдndlichkeit des Paradoxons vom wilden Edlen in Frage stellen und auf die Notwendigkeit hinweisen, die Bedingungen fьr das Aufkommen einer neuen, gesunden Aristokratie zu schaffen, die imstande wдre sich ihre eigenen Werte zu bilden, um die eine «gesellige» Gesellschaft entstehen wьrde.

Schlusswort

Die im Roman von Marusja Klimova dargestellte Gesellschaft ist eine eigentьmliche Gesellschaft. Das Schicksal, das viele Menschen zu einer langen Reise in ferne Lдnder veranlasste, hat ihnen das Geprдge einer nomadisierenden Gesellschaft verliehen. In ihrem Nomadentum streben diese Menschen dennoch danach, ihre Beziehungen zueinander aufrechtzuerhalten. Doch fьhlen sie, dass in ihrer Gesellschaft etwas nicht stimmt, dass die Bindungen sich lockern, und das «Haus», das sie bewohnen, bis ins Fundament zerrьttet ist.

Um das «Haus» fьr die Gesellschaft wieder bewohnbar zu machen, muss man die Traditionen wieder aufgreifen, die von den besseren (aristokratischen) Gesellschaften geschaffen wurden, und der Kultur, die gegenwдrtig mehr Mдngel als Vorteile aufweist, damit zu einem qualitativen Aufschwung zu verhelfen. Ein sozialer Umbau wird somit zur Bedingung fьr die Enstehung einer «geselligen» Gesellschaft gemacht.

Ein Haus zu haben, das nicht der Freiheit berauben wьrde, wo man aber nicht nur die Bestimmungsfreiheit ьber sich selbst haben wьrde, sondern auch die Voraussetzungen dazu, Urteilsvermцgen bilden zu kцnnen und risikofrei das Gute vom Bцsen unterscheiden zu lernen, was in der gegebenen Welt kaum mehr mцglich ist, das ist das Wunschbild der Welt, die aus der Krise der gegenwдrtigen enstehen sollte.


Примечания

1 Norbert Elias, Die hцfische Gesellschaft. Frankfurt am Main 1999. S. 61.

2 Ebd. S. 70-71.

3 Marusja Klimova, Domik v Bua-Kolomb. Sankt-Peterburg 1998. S. 9.

4 Ebd. S. 9.

5 Ebd. S. 167.

6 Fьr die Bedeutung des Begriffes des Hauses fьr Aristokratie siehe: Norbert Elias, Die hцfische Gesellschaft. Frankfurt am Main 1999.

7 Marusja Klimova, Domik v Bua-Kolomb. Sankt-Peterburg 1998. S. 29.

8 Ebd. S. 56.

9 Ebd. S. 11.

10 Ebd. S. 146.

11 Ebd. S. 40.

12 Ebd. S. 133.

13 Ebd. S. 133-134.

14 Ebd. S. 103.

15 Ebd. S. 103.

16 Ebd. S. 52.

17 Ebd. S. 147.

18 Ebd. S. 151.

19 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Annдherung an Louis-Ferdinand Cйline, insofern es fьr ihn eine der anspruchsvollsten Aufgaben der Vorstellungskraft darin besteht, das Schlimmste vorstellen zu kцnnen, um eine Chance zu ergreifen, dem Schlimmsten, bei L.-F. Cйline explizit dem Tode, zu entgehen. So wird der Hauptheld seines Romans Voyage au bout de la nuit Bardamu zum Deserteur des Todes, erst nachdem er das Bild des Todes unverhьllt vor seinen Augen sieht.

20 Marusja Klimova, Domik v Bua-Kolomb. Sankt-Peterburg 1998. S. 28.

21 Ebd. S. 29.

22 Ebd. S. 62.

23 Ebd. S. 175.

24 Dieses Bild belebt die flaubertsche Beschreibung-Allegorie der Freiheit, die zum Ideal der Menge geworden ist: «Dans l’antichambre, debout sur un tas de vкtements, se tenait une fille publique, en statue de la Libertй, — immobile, les yeux grands ouverts, effrayante.» In: Gustave Flaubert, L’Education sentimentale. Gallimard 1995. S. 313.

25 Marusja Klimova, Domik v Bua-Kolomb. Sankt-Peterburg 1998. S. 184.

26 Vgl. dazu die folgende Passage aus Satiricon von Petronius, auf dessen Einfluss auf das Werk von Marusja Klimova Vjaceslav Kondratovic hinweist: «Pendant cette conversation, un joli enfant, parй de guirlandes, de vigne et de lierre, et mimant tantфt Bacchus dйlirant, tantфt Bacchus apaisй, tantфt Bacchus mystique, offrit а la ronde des raisins dans une corbeille et chanta des chansons а boire d’une voix suraiguл. A ce bruit, Trimalchion se retourna et dit: «Dionysos, sois libre!» L’enfant фta le bonnet d’affranchi au sanglier et le mit sur sa tкte. Alors, Trimalchion d’ajouter : «Vous ne direz pas que je n’ai pas un pиre libre.» Nous applaudissons au mot d’esprit de Trimalchion et nous embrassons de bon coeur l’enfant qui va de l’un а l’autre.» Pierre Grimal hebt in seinem Kommentar zu dieser Passage hervor, dass der lateinische Ritualname des Dionysos Liber Pater ist. Siehe: Pйtrone, Le Satiricon. Gallimard 1969. S. 57 und S. 232.

27 Marusja Klimova, Domik v Bua-Kolomb. Sankt-Peterburg 1998. S. 149.

28 Zum Problem des Autors und der Autoritдt siehe: Jean Starobinski, Der Autor und die Autoritдt. Notizen ьber Dauer und Wandel einer Beziehung in: Vermittlungen. Kulturbewusstsein zwischen Tradition und Gegenwart. Hg. von Hanno Helbling und Martin Meyer. Zьrich 1989. S. 174-178.

29 Marusja Klimova, Domik v Bua-Kolomb. Sankt-Peterburg 1998. Siehe Kommentare auf dem Buchumschlag.

30 Um so erstaunlicher ist die Interpretation von Michail Trofimenkov, in welcher er kurzerhand die Verwandtschaft der Empfindungen und der Visionen von Pierre und von Marusja aufstellt. Siehe das Nachwort in: Marusja Klimova, Golubaja krov’. Sankt-Peterburg 1999. S. 147-150.

Universitat Konstanz , 2001

 

 

Вернуться на страницу «Пресса»